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Erinnerungen an den Krieg

Autor : 
BIAGINI Margherita
Text erfasst von Patrizia Gabrielli
Vorgestellt und annotiert von Patrizia Gabrielli
Übersetzung Philippe Padet, Daniel Winkler und Helga Lux

Margherita Biagini wurde 1931 in Florenz geboren, sie besuchte dort die Hauptschule. Zwischen 1997 und 2000 schrieb sie ihre Erinnerungen auf. Das Archivio Diaristico Nazionale von Pieve Santo Stefano erhielt die Typoskripte am 14. Dezember 2000.

Juli 1944. Nachdem die Nazis die Brücken über den Arno gesprengt hatten, zogen sie sich in den Norden der Stadt zurück1 Am 31. Juli 1944 verminte die deutsche Wehrmacht die Arnobrücken. Nur der Ponte Vecchio blieb verschont. Laut genauen Vorschriften seitens der deutschen Regierung mussten alle jene Häuser, Straßen und Brücken gesprengt werden, deren Zerstörung den Vormarsch der Alliierten aufhalten konnte.. Die Alliierten, die im Kloster von Certosa Stellung bezogen hatten, feuerten pausenlos, ohne zu schauen, wohin sie trafen. Die Bomben schlugen ziellos ein und verursachten in der Zivilbevölkerung Dutzende Opfer.

In den Häusern gab es seit Tagen keine Lebensmittel mehr, außer ein wenig Wasser, das man nach endlosem Anstehen aus einem Brunnen in der Nähe schöpfen konnte.

Der Hunger war unser ständiger Begleiter geworden, die Angst beherrschte unser Leben und unser Leben war räumlich wie zeitlich stark eingeschränkt. Die Tage vergingen bedrückend langsam, während wir auf die bevorstehende Befreiung warteten. Wegen der vielfältigen Gefahren konnten wir uns nur im Haus und auf einem kurzen Abschnitt unserer Straße aufhalten. Das Spielen war unterbrochen, unsere Sorglosigkeit vom Hunger zerstört worden.

An jenem Morgen hatte man uns gesagt, dass wir ein Kilo Brot bekommen könnten, wenn wir zu Zulimo, einem Bauern in Galluzzo2 Galluzzo ist ein Ort am Stadtrand von Florenz. gehen würden. Aber dazu müsste man die Straße nach Certosa entlanggehen und dort war mit dem Beschuss durch die Alliierten zu rechnen. Es war ein riskantes Unterfangen, aber es gab keine Alternative.

Ich sehe noch vor mir, wie mein älterer Bruder, bei der Vorstellung, etwas Richtiges zu essen zu bekommen, jubelte.

Er bot sofort an, selbst dorthin zu gehen. Er sagte uns lachend, er werde im Zickzack laufen, um den Granaten auszuweichen.

Meine Mutter erlaubte es ihm nicht und beschloss, selbst dorthin zu gehen.

Sie überließ mir, einem zwölfjährigen Mädel, meine jüngere Schwester und meinen jüngeren Bruder und versprach beim Weggehen, dass wir zum Abendessen frisches Brot bekommen würden.

Es war ein Sommertag, der Himmel war so klar und wolkenlos, dass man bei seinem Anblick den alles beherrschenden Schrecken beinahe hätte vergessen können.

Ich sang meinem jüngsten Bruder das Schlaflied "Fate la nanna coscine di pollo" 3 Beliebtes italienisches Wiegenlied. vor. In der Küche roch es nicht mehr wie üblich, weil schon lange nicht mehr gekocht worden war. "Che il babbo è tornato da Roma" sang ich weiter, ohne die Ursache meiner Nervosität und Angst zu begreifen. "Vi ha portato una bella corona", sang ich, während ich die Wange meines Bruders streichelte. Ich wurde von einer inneren Unruhe und einer bösen Vorahnung befallen. Um mich zu beruhigen, ging ich zum Fenster und betrachtete den Himmel.

Kurz danach hörte ich lautes Geschrei und aufgeregte Stimmen. Ich drehte den Kopf und sah, wie Männer eine Tragbahre trugen, auf der meine Mutter lag. "Schnell, schnell", schrien sie und rannten in Richtung eines kleinen Lazaretts, das für die zahlreichen Verletzten eingerichtet worden war.

Sie war von den Splittern einer Granate getroffen worden.

Ich habe geschrien, ich habe lange geschrien. Ich sah, dass meine Mutter weinte. Dabei bedeckte sie ihr Gesicht mit einer Decke, damit wir es nicht sehen konnten.

Für die, die auf dieser Seite des Arno wohnten, war der Krieg vorüber. Die italienische Befreiungsarmee und die 5. amerikanische Armee hatten die Deutschen nach Norden zurückgedrängt und diesen Teil der Stadt befreit4 Am 4. August 1944 wurden die Stadtviertel auf dieser Flusseite, auch "Oltrarno" genannt, befreit..

Als wir endlich aus unserem Versteck herauskommen konnten, freuten wir uns wie jemand, der nach langer Zeit in der Dunkelheit plötzlich wieder das Licht sieht.

An diesem Tag erschien mir die Sonne heißer und heller als sonst, der Himmel war wolkenlos, kristallklar und durchgehend blau, ich fühlte mich wie von Lichtpartikeln umhüllt. Ich ging von der Via Romana über die Piazza Pitti in Richtung Ponte Vecchio. Ich sah die Orte meiner Kindheit, die Straßen, die jahrelang den Umkreis unseres Familienhauses erweitert hatten. Ich wohnte in der Costa San Giorgio. Die Via Guicciardini, der Borgo San Jacopo, die Via dei Bardi und die Via Porta Santa Maria waren jetzt in einen einzigen Schuttkrater verwandelt. An Mauerresten in der Luft schaukelnder Hausrat, Möbel, Balken sahen aus wie ein riesiges aufgerissenes Maul und machten deutlich zu welcher Grausamkeit die menschliche Dummheit fähig ist. Der Krieg war auf obszöne Weise wie eine widerliche Dirne in unser Privatleben eingedrungen. Er hatte Menschen und Dinge auf verheerende Weise heimgesucht, den Alltag durcheinander gebracht und zerstört. In einem einzigen Moment hatte er alle Erfahrungen und alle Erinnerungen ausgelöscht: wo früher Leben gewesen war, waren jetzt nur mehr Ruinen.

Völlig in ihrer Verzweiflung gefangen irrten die Menschen betroffen und fassungslos in ihren Erinnerungen herum. Alle suchten hektisch nach Gegenständen, die ihnen gehört hatten, und versuchten so, sich ein Stückchen dieser geraubten Erlebnisse und Erinnerungen wieder zu holen.

Angesichts dieses Schreckens wurde ich von einer schmerzhaften Schwermut befallen. Die Sonne wärmte mich nicht mehr, der Himmel war wie verdunkelt. Zuerst leise, dann laut brachen die Tränen befreiend aus mir heraus. Mit all meinen Tränen trauerte ich um meine verlorene Kindheit.

Ich wurde von einer zarten, sehr alten Frau am Arm gepackt und in die Wirklichkeit zurückgebracht. Unter ihrem bunten, unter dem Kinn zusammengebundenen Kopftuch schauten weiße Haarbüschel hervor. Ihre klaren, blauen Augen fixierten einen Punkt in der Ferne. Sie schüttelte mich und sagte: "Siehst du es auch, meine Kleine?" Ich fragte sie, ob eines dieser Häuser ihres gewesen war. Sie antwortete nicht. Während sie mir den Arm noch fester drückte, machte sie eine vage Bewegung mit dem Kopf, wie ein Nicken. "Was soll ich sehen?", fragte ich sie. Sie deutet mit der Hand auf einen Schutthaufen und schrie aufgeregt: "Ja, das das ist meines, ich erkenne es wieder!" Sie hatte ein Fotoalbum wiedererkannt, jetzt sah ich es auch. Es war eines dieser florentinischen, mit goldroten Lilien bedeckten, cremefarbenen Alben. Wer weiß, wie viele Erinnerungen darin eingeschlossen waren? Mit einem für ihr Alter ungewöhnlichen Schwung machte die Frau einen Satz nach vorn, um zum wiedergefundenen, großen Schatz zu gelangen. Ein junger Mann hielt sie zurück und bot ihr an, es für sie zu holen. Zwischen den Trümmern hüpfte er auf das Album zu. Ich sah, wie seine ausgemergelte Figur und sein schwarzer Schopf sich immer weiter entfernten. Er bückte sich und streckte seine Hand aus, um das Album zu fassen. Die Frau rief "Bravo!".

Wir hörten eine Explosion dröhnen und sahen eine Stichflamme. Während wir wegrannten, um uns in Sicherheit zu bringen, konnten wir gerade noch sehen, wie der Mann in die Luft geschleudert wurde und wie eine Sternschnuppe wieder auf den Boden zurückfiel: Er war auf eine scharfe deutsche Mine getreten.

In einem Hauseingang fanden wir mit anderen Menschen Zuflucht. Ohne mir dessen bewusst zu werden, begann ich wie automatisch zu schreien: "Warum, warum?" Eine Frau nahm mich wortlos in die Arme, sie streichelte mir den Kopf, um mich zu trösten. Mit dieser Geste gab sie mir das Gefühl zurück, dass die Sonne noch weiter wärmen kann.

  • 1. Am 31. Juli 1944 verminte die deutsche Wehrmacht die Arnobrücken. Nur der Ponte Vecchio blieb verschont. Laut genauen Vorschriften seitens der deutschen Regierung mussten alle jene Häuser, Straßen und Brücken gesprengt werden, deren Zerstörung den Vormarsch der Alliierten aufhalten konnte.
  • 2. Galluzzo ist ein Ort am Stadtrand von Florenz.
  • 3. Beliebtes italienisches Wiegenlied.
  • 4. Am 4. August 1944 wurden die Stadtviertel auf dieser Flusseite, auch "Oltrarno" genannt, befreit.
Katalognummer:
  • Numéro: XX005
  • Lieu: Archivio Diaristico Nazionale di Pieve Santo Stefano, Arezzo, Toscane
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